Ich habe etwas, das du nicht siehst – sichtbare versus unsichtbare Behinderungen

Knapp 10% (7,8 Mio. im Jahr 2022) aller Menschen in Deutschland leben mit einer Schwerbehinderung. Davon sind lediglich 3% seit ihrem ersten Lebensjahr beeinträchtigt und 90% durch eine Erkrankung, die im späteren Leben aufgetreten ist. 80% aller Behinderungen sind auf den ersten Blick nicht wahrnehmbar.

(Quellen: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_259_227.html https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/accessibility/)ser

In den offiziellen Zahlen sind mit Sicherheit viele Menschen mit seelischer Beeinträchtigung nicht erfasst, da die Erkrankungen oft erst spät erkannt werden und sich viele scheuen, den Schritt der Anerkennung des Grad der Behinderung zu wagen, aus Scham oder Angst vor Ausgrenzung bzw. Nachteilen im Arbeitsleben. Die meisten psychischen Erkrankungen werden bereits im Kindesalter erworben und oft erst im Erwachsenenalter erkannt, wenn das Funktionieren in unserer Leistungsgesellschaft nicht mehr möglich ist. Selbst wenn eine Erkrankung bereits im Kindesalter entdeckt wird, sind die Wartezeiten auf einen Therapieplatz für Kinder ebenso wie für Erwachsene sehr lange, da es leider viel zu wenige Kassensitze für Therapeutinnen und Therapeuten gibt. Unbehandelte psychische Akuterkrankungen oder eine rein medikamentöse Behandlung führen allerdings in der Regel zu chronischen Störungsbildern, die sich selten wieder vollständig zurückbilden und die Teilhabe am Arbeitsleben und anderen Lebensbereichen oft deutlich beeinträchtigen.

Pilotprojekt „Ramadama-Menü“


Wenn man in der Selbsthilfe aktiv ist, wie ich, und viel liest zu behinderungsspezifischen Themen, kommt man also um das Thema Sichtbarkeit der Beeinträchtigung nicht herum. Es ist eine Möglichkeit (neben vielen anderen) Behinderungen zu unterscheiden. Stigmatisierung und Diskriminierung erleben nahezu alle Menschen mit Beeinträchtigungen, nur die Art und Weise ist unterschiedlich, je nachdem ob die Beeinträchtigung von außen wahrnehmbar ist oder nicht. Von Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen, wie beispielsweise Menschen, die auf Hilfsmittel wie Rollstuhl, Blindenstock oder Hörgeräte angewiesen sind oder Menschen mit deutlichen Spracheinschränkungen oder Gesichtsmerkmalen, die z.B. an Downsyndrom erinnern, weiß ich, dass sie in vielen Situationen auf ihre Behinderung reduziert wurden und ihre Fähigkeiten und Potenziale völlig unterschätzt wurden.


Das Gegenteil passiert häufig bei Menschen, deren Beeinträchtigung nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. Menschen mit chronischen psychischen oder körperlichen Erkrankungen müssen häufig lange darum kämpfen, dass ihr Hilfebedarf anerkannt wird und ihre Einschränkungen wahrgenommen werden. Viel zu wenig wird meiner Meinung nach von entsprechenden Kostenträgern darauf geachtet, welche Auswirkungen diese langwierigen Verfahren auf die mentale Gesundheit der Antragsstellenden haben. Es gibt sogar Gerüchte, dass in entsprechenden Ämtern ein Ablehnungswettstreit unter den Mitarbeitenden herrscht und eine genaue Prüfung der Fälle erst im Widerspruchsverfahren erfolgt – trotz Bundesteilhabegesetz, das es seit 2018 gibt und inzwischen vollständig in Kraft getreten ist. Die Unsicherheit und Ohnmacht in einem solchen Antragsverfahren über einen langen Zeitraum auszuhalten, kostet viel Kraft und nicht selten verschlechtert sich währenddessen die psychische Gesundheit. Studien zeigen aber, dass Teilhabeleistungen umso erfolgreicher sind, je schneller sie durchgeführt werden. Leider dauert es viel zu lange, bis wissenschaftliche Erkenntnisse oder neue Gesetzeslagen im Behördenalltag ankommen und Veränderungen in die Wege geleitet werden.

Beratung auf Augenhöhe und Selbstverantwortung

Wesentlich häufiger erlebe ich jedoch, dass Menschen mit unsichtbaren Einschränkungen gar nicht wissen, auf welche Hilfen sie Anspruch haben oder sich nicht trauen bzw. es nicht schaffen sich Hilfe zu organisieren. Leider sind selbst Fachkräfte aus dem psychosozialen Bereich noch unerfahren mit den neuen Teilhabeleistungen, sodass Betroffene nicht selten Fehlinformationen erhalten. Weit schlimmer sind allerdings die Fälle von Menschen mit Beeinträchtigungen, die zwar Hilfen und Unterstützung erhalten, die für sie aber gleichzeitig belastend oder sogar schädlich sind. Diese Menschen verlieren nicht selten das Vertrauen ins Hilfesystem und lehnen professionelle Hilfe gänzlich ab oder brauchen sehr lange, um neuen Unterstützungspersonen wieder zu vertrauen. Selbsthilfe- oder Peer-to-Peer-Beratungen (wie z.B. die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung- EUTB) haben dann durch die eigene Erfahrungsexpertise der Beraterinnen und Berater häufig einen völlig anderen Zugang zu diesen Menschen, da die Beratung auf Augenhöhe erfolgt.
Letztlich ist jeder Mensch einzigartig und hat seine individuellen Ressourcen, Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, auch Menschen mit Beeinträchtigungen. Dieselbe Art der Behinderung oder Erkrankung kann sich im Alltag bei zwei Menschen völlig unterschiedlich auswirken. Daher legt das Bundesteilhabegesetz so großen Wert auf Selbstbestimmung und nimmt den Menschen mit Behinderung als Experte des eigenen Lebens ernst. Der individuelle Bedarf steht somit im Vordergrund und das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen wurde erheblich gestärkt. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft, auch wenn die Reise dorthin noch lange dauern wird.

Welche konkrete Chancen haben wir in der Progeno?

Wir als Gemeinschaft können viel dafür tun, dass sich Menschen mit sichtbarere und unsichtbarer Behinderung in der Progeno wohl fühlen, egal ob letztere sich outen wollen oder nicht. Jede und jeder einzelne von uns kann mit offener Haltung auf andere zugehen, ohne vorschnell zu urteilen. Wir können einander besser verstehen, wenn wir uns gegenseitig zuhören und aufeinander achtgeben. Das nachbarschaftliche Miteinander und die Einbindung in die Gemeinschaft geben uns allen auch sozialen Halt, egal ob wir eine Beeinträchtigung haben oder nicht.

Beim gemeinsamen Kochen Vorurteile abbauen, Begegnung ermöglichen und Zugang zur Gemeinschaft schaffen.


Vorurteile können am besten durch persönliche Begegnungen abgebaut werden. Das belegen nicht nur Studien, sondern auch preisgekrönte Projekte. Mit dem Pilotprojekt Ramadama-Menü möchte der AK Inklusion und Vielfalt nach erledigter Arbeit nicht nur die hungrigen Mägen füllen, sondern auch eine Brücke schlagen und den Zugang zur Gemeinschaft öffnen. Dabei wird eine kunterbunte Gruppe aus FAM-Leuten eine Vielfalt aus dem Topf auf die Teller zaubern und damit die Feier nach dem Ramadama zu einem tollen gemeinsamen Erlebnis machen.

Irene Zametzer und Ummaha Gräsle | Grafik: Irene Zametzer | Fotos: Maik Eichstädt

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