Lärm entsteht im Kopf

Nur im Weltall ist es wirklich still

Philosophische Betrachtungen zum Umgang mit dem Thema „Lärm“, inspiriert vom Jahresbericht der Zürcher Genossenschaft Kalkbreite (Sieglinde Geisel).

Vor zwei Jahren bin ich mit anderen in den herrlichen „Südflügel“ der Progeno Genossenschaft im Prinz-Eugen-Park gezogen. Die Zeiten eines Um- und Einzugs, eines Wohnortwechsels machten auch eine Neuorientierung im Raum der Geräusche notwendig. Die Geräusche in der Wohnung waren neu und zunächst noch ungewohnt. Aber ebenso neu zu lernen waren die Geräusche im Außenraum. Viel Raum nehmen die Geräusche der vielen Kinder ein, die einen wunderbaren Hof zum Spielen bekommen haben.

Mein Interesse am Thema Lärm, in oder außerhalb einer Genossenschaft, ist durch den Jahresbericht der Zürcher Genossenschaft Kalkbreite aus dem Jahr 2018 geweckt worden. Die Kalkbreite weist jede Menge Erfahrung und ebenso viel Pioniergeist auf. Auch unsere Gründungsväter und Gründungsmütter besuchten 2016 die Kalkbreite, sie machten sich ein Bild vor Ort und ließen sich inspirieren!

Die Verbindung eines Straßenbahndepots mit Wohnraum

Die Stadt Zürich hatte seit den 70er Jahren nach einer Lösung gesucht, die eine Überdeckelung des Straßenbahndepots vorsah. Die 2006 gegründete Genossenschaft „Kalkbreite“ erhielt 2007 das Grundstück in Erbpacht. Ausschlag ergab deren innovatives Konzept. Die Verbindung von Wohnen, Arbeiten und Kultur. Es war ein städtischer Knotenpunkt gewünscht, der von der Nähe zu den öffentlichen Verkehrsmitteln profitiert. Zwei Tramlinien halten dort, etliche Busse und die Blockrandsiedlung wurde von zwei stark befahrenen Straßen und einer Bahntrasse begrenzt. Das Rattern der Züge löst Erschütterungen aus, die sich durch das Erdreich bis in das Gebäudeinnere ausbreiten und selbst dicke Betondecken in Schwingung versetzen können. Eine elastische Lagerung der Gebäude war von Nöten!

Kalkbreite Zürich, Quelle Wohnungsgenossenschaft Kalkbreite

Das Straßenbahndepot wurde bis in das zweite Obergeschoss ausgebaut. Im ersten OG herrscht ein hoher Büroanteil und im Erdgeschoss Gewerbe und Gastronomie. Insgesamt 24 gewerbliche Adressen gibt es in der Kalkbreite. In gemeinschaftlicher Abstimmung wurden unterschiedliche Wohnmöglichkeiten geschaffen: 88 Wohnungen von 1 bis 9,5 Zimmern dienen unterschiedlicher Nutzung durch 250 Mieterinnen und Mieter!

In ihrem Jahresbericht jedoch bekennt die Präsidentin der Genossenschaft, dass nicht wenige der Mieterinnen und Mieter des Wohn- und Gewerbebaus dauerhaft einer Lärmbelastung ausgesetzt seien. Diese Lärmbelastung gehe gelegentlich sogar über das Zumutbare hinaus! Es gibt inzwischen ein Nachfolgeprojekt, das Zollhaus. Die Beschreibungen der Lärmbelastungen klingen auch bei diesem Projekt sehr ähnlich.

Progeno München Prinz-Eugen-Park und Freiham

Ganz anders bei uns im Prinz-Eugen-Park: Unter unserem Hof wurden die Tiefgarage, Fahrradräume und Keller gebaut, frei von Lärmbelastungen! Die Wände in meiner Wohnung lassen so gut wie keine Geräusche von meinen Nachbarn durch. Am späten Abend lässt sich auf meinem Balkon das gleichmäßige Rauschen des Autoverkehrs einer Großstadt hören, für mich bedeutet es keine Störung oder Belästigung. Der Blick ins Grüne, sei es in unseren Hof oder nach Süden in die Baumreihen, dämpft meine Wahrnehmung von etwaigem Lärm. Eine ganze Zeit wurde ja im Viertel noch gebaut, ich habe diese Art von Baugeräusche fast schon vergessen!

So oder ähnlich wird es den Bewohnern und Bewohnerinnen nach dem Bezug in Freiham sicher auch gehen. In der Kalkbreite ist z.B. der individuelle Besitz eines Privatautos verpönt, es wurden deshalb auch keine Garagenplätze gebaut. Die zukünftigen Bewohner in Freiham beschäftigen sich schon vor dem Einzug mit ihrem Mobilitätskonzept. Sie stellen sich den Fragen: Wie lässt sich die Zahl der Privatautos reduzieren, die ja einen nicht unerheblichen Anteil an der Lärmbelästigung in einer Großstadt haben? Wie können „Lasten“ ohne Auto bewegt werden, und wie lässt sich der Weg zur Arbeit z.B. mit einem E-Bike auch von Freiham aus gestalten? Da sind kluge Ideen gefragt.

Wie wird ein Geräusch zu Lärm ? Lärm entsteht erst im Kopf ?

In gewisser Weise gehört Lärm ganz einfach zum Leben. Ohne Menschen gäbe es keinen Lärm. Die Natur kennt Geräusche, Wasser kann tröpfeln, rauschen, tosen. Der Wind pfeift und versetzt Bäume und Blätter in Schwingungen. Die Geräusche, die hierbei entstehen sind beruhigend. Selbst die lautesten Geräusche, die in der Natur entstehen, wie der Donner oder gar ein Vulkanausbruch, sind für sich genommen kein Lärm.

Lärm entsteht also erst im Kopf, hier wird entschieden, ob es sich bei einem Geräusch um Lärm handelt! Die meisten Geräusche, die wir als Lärm wahrnehmen, werden von anderen Menschen oder Tieren verursacht. Mit den Ohren wenden wir uns der Umwelt zu und entscheiden, welcher Lärm uns z.B. Schmerzen bereitet, oder weniger drastisch, uns stört und nervt.

Das Nachdenken über Lärm führt unweigerlich auch zu sozialen Fragen. Wer belästigt wen, und wer darf wen belästigen? Lärm ist also auch eine Machtfrage im politischen Raum!

Lärmquellen werden in der Stadt zu Lärmbelästigungen

In Großstädten wie München und Zürich sind Bewohnerinnen und Bewohner den unterschiedlichsten Quellen und Formen von Lärm ausgesetzt. Beispielhaft genannt sei: Die Lärmbelästigung durch Gewerbebetriebe, durch Veranstaltungen im Freien und geschlossenen Räumen, durch Gaststätten, hier besonders der Lärm ausgehend von den sogenannten „ Freischankflächen “ (Biergärten).

Aktuell verschärft sich in München die Lärmproblematik an etlichen Plätzen in der Innenstadt. Die Regeln im Umgang mit dem Corona Virus schreiben uns z.B. Abstand halten und Makenpflicht vor. Zu einem wahren Hotspot hat sich der Gärtnerplatz entwickelt, die Einhaltung der Coronaregeln ist außer Kraft gesetzt. Die Störung der Anwohner durch die Menge an Feiernden und dem damit verbundene Vandalismus, ist leicht zu verstehen. Die Stadt reagiert mit Alkoholverbot und versucht mit Räumungen dem Ganzen ein Ende zu setzen

Aufgeführt sei aber auch der Nachbarschaftslärm, der Baulärm, Straßenlärm, Lärm von Schienenfahrzeugen, Fluglärm, Lärm am Arbeitsplatz und vielen weiteren Formen von Lärm! Es herrscht Einigkeit darüber, dass Lärm gesundheitliche Auswirkungen hat. Lärm stört, wenn wir in Ruhe nachdenken oder reden wollen. Lärm stresst und wir schlafen weniger tief, wir sind nervös und gereizt. Lärm macht krank, es kommt zu Depressionen, erhöhtem Blutdruck und Herz-Kreislauf-Problemen.

Lärm entsteht im Kopf

Unser Kopf entscheidet, welche Aufmerksamkeit wir den Lärmbelästigungen einer Großstadt schenken. Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Lärm verstärkt allerdings auch gleichzeitig die Sehnsucht nach Stille.

Wirklich still ist es nur im Weltraum, denn dort gibt es kein Medium für die Schallwellen. Astronauten schlafen mit Ohrstöpseln, weil die Ventilatoren der Raumstation so laut sind. Bei einem Weltraumspaziergang ist es wegen der Klimaanlage im Raumanzug lauter als bei jedem anderen Spaziergang.

Nicht mit jedem Lärm in der realen Welt kann man sich versöhnen. Aber das der Lärm eine Frage des eigenen Bewusstseins ist, ist tröstlich. Wenn einem auffällt, dass man das Zwitschern der Vögel vor dem Fenster angenehm findet, fühlt man sich vom Wellensittich des Nachbarn nicht mehr gestört. Man hört ihn als Vogel und nicht mehr als Geräusch aus der Nachbarwohnung.

Karla Flügel

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