Leben jenseits traditioneller Betreuungseinrichtungen
In der Progeno findet Nina endlich die Freiheit, nach der sie sich gesehnt hat. Nach etlichen Jahren im Wohnheim genießt sie nun ein selbstbestimmtes Leben in ihrer eigenen rollstuhlgerechten Wohnung in Freiham. Doch trotz der gewonnenen Unabhängigkeit kämpft Nina weiterhin für eine 24-Stunden-Assistenz, die es ihr ermöglichen würde, ihren Aktivitäten uneingeschränkt nachzugehen.
In einem Gespräch im Grünen mit Kerstin, Maik und Irene gewährte Nina einen Einblick in ihren Alltag, ihre Herausforderungen und ihre Wünsche:

„Im Wohnheim, da ist es eigentlich nicht so schön, da zu leben, weil da sind nur 3 Betreuer für 8 Bewohner. Man muss immer zurückstecken. Und man kann auch abends nie rausgehen, wenn man rausgehen will. Besonders in meinem Fall, wenn man auf Assistenz angewiesen ist. Dann habe ich auf einmal die Wohnung in der Progeno gekriegt und bin ausgeflippt, weil ich gedacht habe: Endlich bin ich frei! Seit ich hier lebe, habe ich meine eigene Assistenz und kann rausgehen und machen, was ich will.“
Besonders den Zeitdruck im Heim empfand Nina als erheblichen Stressfaktor. Die Pflegekräfte waren mit ihrer Arbeit meist so überlastet, dass sie für die Anliegen der zu Unterstützenden zu wenig Zeit hatten und sie oft vertrösten mussten – oder sie in der Hektik sogar ganz vergaßen.
Allerlei Hürden im Kleinen und Großen
Manches hat sich auch nur scheinbar verbessert. Während Nina im Wohnheim oder davor manchmal festsaß, weil sie sich den Code für die Tür nicht merken konnte, ermöglichen elektronisch gesteuerte Türen in ihrem neuen Umfeld ungehindertes Passieren – solange nicht die Technik streikt, was leider „gefühlt alle zwei Wochen“ geschieht. Neben dauerhaft verlässlich funktionierenden Türen wünscht sich Nina daher eine verbesserte Rampe zur Terrasse, damit sie im Falle eines Türdefekts oder gar eines Brandes wenigstens einen anderen sicheren Ausgang nutzen könnte. Auch andere Wohnungsveränderungen könnten große Alltagserleichterungen und mehr Unabhängigkeit bringen, wie zum Beispiel die Installation eines Deckenlifters im Badezimmer. Die Genehmigungsverfahren für solche Hilfsmittel gestalten sich allerdings in der Regel langwierig. Auch für ihren Elektrorollstuhl, den sie selbst steuern kann, musste sie beharrlich kämpfen.
Einblick in Ninas Alltag
Da Nina seit ihrer Geburt unter Spastik und einer Sehbehinderung leidet, kann sie ihre Wohnung nicht allein verlassen und ist ständig auf Unterstützung angewiesen. Besonders starke Muskelverkrampfungen schränken auch ihre Sprech- und Bewegungsfähigkeit so schwer ein, dass sie manchmal nicht einmal ihren Elektrorollstuhl und ihr Smartphone selbst steuern kann. Von den Tabletten, die sie täglich dagegen einnimmt, wird sie zudem tagsüber sehr müde. Trotz dieser Behinderungen und ihrer Einstufung in Pflegegrad 4 erhält sie nicht automatisch rund um die Uhr Betreuung – dazu geht es ihr noch „zu gut“. Um vom Wohnheim in eine Einzelwohnung umziehen zu können, musste sie sich sogar darauf einlassen, täglich zwischen 9 und 14 Uhr auf Assistenz zu verzichten. Das bedeutet, dass sie an allen Tagen, an denen sie nicht in der Arbeit ist, fünf Stunden ganz allein aushalten muss – egal, ob Wochenende ist, sie Urlaub hat oder unter einer Krankheit leidet. Diese Versorgungslücke zu überstehen, stellt nicht nur eine enorme psychische Belastung dar, weil Nina sich einsam und gefangen fühlt – tatsächlich hat sie auch allen Grund zur Angst, denn wegen der Spastik ist sie manchmal nicht in der Lage, Hilfe zu holen: „Ins Bad zur Notklingel komme ich dann nicht mehr“, berichtet sie. Als sie einmal krank war und sich übergeben musste, konnte sie tatsächlich niemanden um Hilfe bitten. „Manchmal ist meine Spastik so schlimm, dass ich nicht mal das Handy bedienen kann und im Notfall jemanden anrufen könnte.“
Auch technische Unterstützungssysteme wie Siri und Alexa, die eine Telefonbedienung über Sprachsteuerung ermöglichen, funktionieren nicht immer einwandfrei zuverlässig. Deshalb wäre Nina über weitere Unterstützung an den Wochenenden froh und kämpft für die Genehmigung einer 24-Stunden-Assistenz.

Arbeitsleben unter erschwerten Bedingungen
Selbst finanzieren kann sie sich diese Dienstleistungen von ihrem Einkommen nicht: Für ihre Tätigkeit im Online-Verkauf der Bücherkiste, einer Werkstatt der Pfennigparade, erhält sie nur etwa 200€ monatlich, obwohl sie täglich von 08:30 bis 16:00 Uhr arbeitet. Das dortige Arbeitsumfeld empfindet Nina nicht als
optimal. So kann sie an ihrem Computer keine Spracheingabe nutzen, was für ihre Beeinträchtigung günstiger wäre, weil sie sich mit anderen ein Büro teilt. Wegen ihrer Spastik kommt für sie nur Computerarbeit in Frage, die aber wiederum ungünstig für ihre Augen ist. Den Zeitdruck der Pflegekräfte wegen chronischer Unterbesetzung bekommen oft auch die Assistenzbedürftigen in Form von Gereiztheit und Unfreundlichkeit zu spüren. Um nicht auch noch diesen Ärger auf sich zu ziehen, beeilt sich Nina immer mit dem Essen – erholsam sind so nicht einmal die Pausen. Umgekehrt werden ihr oft besonders ausgedehnte Fahrten von und zur Arbeit zuteil, weil die Busfahrer des Fahrdienstes nach Stunden bezahlt werden und deshalb gerne Extratouren einlegen, auch wenn Nina dadurch manchmal zu spät zur Arbeit und später nach Hause kommt.
Tatkräftige Nachbarn erleichtern ihr den Alltag
In ihrer Freizeit ist Nina gern in der Natur. Besonders freut sie sich über die Aussicht auf ein Hochbeet in den Gemeinschaftsgartenflächen, in dem sie Erdbeeren anpflanzen will. Im Atelier hat sie mit Maik und Kerstin Kerzen gegossen. Was Wunschunternehmungen wie Ausflüge ins Schwimmbad und kreative Tätigkeiten wie beispielsweise Zeichnen anbelangt, ist sie weitgehend auf Assistenz und technische Hilfe angewiesen. Ihre Assistenz traut sich aber nicht allein mit ihr ins Schwimmbad. Hier könnte eine größere Gruppe mehr Sicherheit bieten. Geeignete technische Hilfsmittel für Hobbies wie zum Beispiel ein per Joystick steuerbarer Stiftehalter sind in der Regel teuer und werden kaum finanziert.

Eine 24-Stunden-Assistenz könnte Nina mehr Freiheit bei der Freizeitgestaltung ermöglichen, so dass sie im Urlaub auch einmal ausschlafen könnte und nicht auch an arbeitsfreien Tagen spätestens um 9 Uhr mit der Morgenroutine fertig sein müsste. Über gemeinsame nachbarschaftliche Aktivitäten würde sie sich besonders freuen, wenn sie mit ihnen ihre assistenzlose Zeit an den Wochenendvormittagen überbrücken könnte. Ihre Nachbarn Maik und Kerstin erleichtern ihr bereits jetzt den Alltag, indem sie schnell zur Stelle sind, wenn es Probleme gibt. Damit hat sich Maik bei Nina den liebevollen Ehrentitel „mein Handwerker“ verdient
Auch wenn es noch ein weiter Weg bis zu wirklicher Selbstbestimmung ist, lautet Ninas Fazit:
„Ich bin hier sehr zufrieden und fühle mich wohl.“
Irene Zametzer – mit Unterstützung von Julia Sacchi| Fotos: Irene Zametzer
