Wenn Weltpolitik auf Wirklichkeit trifft

Ein Mittagessen mit Fawad, der um das Leben seiner Familie in Afghanistan bangt

In der Woche, als die westlichen Kräfte ihren dramatischen Truppenabzug aus Afghanistan einleiteten, saß ich wie viele andere fassungslos vor dem Fernseher. Und da fiel mir Fawad ein. Fawad, der in unserer Genossenschaft lebt und jahrelang als Ortskraft die Bundeswehr in Afghanistan unterstützt hatte. Plötzlich hatte ich unglaublich viele Fragen.

Wie muss sich das anfühlen, wenn man täglich sein eigenes und das Leben der Familie riskiert hat, weil man an eine bessere Zukunft für sein Land geglaubt hat – und plötzlich alles umsonst war? Und weil es immer mehr Fragen wurden, verabredete ich mit Fawad zum Interview. Am 12. September 2021. 20 Jahre nach dem 11. September 2001, dessen Folgen auch sein Leben so maßgeblich bestimmen.

Hat Angst um seine Familie: Fawad, der als Ortskraft für die Bundeswehr gearbeitet hat.

Als Tina Gudehus (Fotografin) und ich die Wohnung von Fawad betreten, werden wir eingehüllt in einen wunderbaren Duft von geschmortem Lammfleisch und orientalischem Reis. Eigentlich war mein Plan, mit Fawad zu kochen – stattdessen hat er für uns gekocht! Toll! Da kann ich mich ja ganz auf mein Interview konzentrieren, denke ich mir. Wir lassen uns auf dem bequemen Ledersofa nieder und Fawad deckt den Tisch so reichlich, dass ich frage, ob er noch mehr Leute erwarte. Alles für uns! Wer hat ihm das beigebracht? „Das habe ich mir selbst beigebracht“, sagt Fawad und verteilt die appetitlich angerichteten Platten auf dem Couchtisch. Seine Kindheit verbrachte er, geboren 1986, nicht in Afghanistan, sondern mit der Oma in Pakistan, wo er auch zur Schule ging – und Englisch lernte. 2001, im Jahr der Anschläge auf das Word Trade Center, kehrte er nach Afghanistan zurück, wo seine Verwandtschaft und Familie lebt. Nach weiteren drei Jahren Schulzeit und Arbeit für eine deutsche Bank, machte ihm die Bundeswehr 2007 das Angebot, sie als Ortskraft in Kunduz zu unterstützen.

„In meiner Familie haben mich alle unterstützt“

„2002 bis 2007, das war eine gute Zeit in Afghanistan,“ erinnert sich Fawad lächelnd zurück. „Bundeswehr, NATO, ISAF, kein Krieg, keine Taliban. Ich fühlte mich sicher, und wir konnten den Menschen helfen.“ Fawad besuchte zusammen mit den Soldaten die Dörfer in der Provinz Kunduz, führte Gespräche mit den Dorfbewohnerinnen und Bewohner, unterstützte sie mit allem, was sie brauchten – und sammelte im Gegenzug wichtige Informationen ein, über bevorstehende Anschläge zum Beispiel. „In meiner Familie haben mich alle unterstützt. Mein Bruder hatte einen Vertrag als Sicherheitsmann im Bundeswehr-Camp in Kunduz, meine Mutter verteilte Flyer in den Dörfern.“ Ich höre den Stolz heraus, als Fawad von seiner großen, angesehenen und wohlhabenden Familie erzählt, die sich für die gute Sache einsetzte, sein Vater, der ihn stets ermunterte, zu helfen. Nach dem verheerenden Angriff auf den Tanklastzug 2009, den Fawad aus nächster Nähe mitbekommen hatte, klärte er die Bevölkerung über die wahren Hintergründe auf.

Von Fawads Erlebnissen in Afghanistan wissen nicht viele in der Genossenschaft

Die Taliban sprengten sein Geschäft in die Luft

2008 mehrten sich die Angriffe durch die Taliban, die sich nicht mehr, wie früher, nach Pakistan zurückzogen, sondern sich ab 2011 zunehmend wieder in den Dörfern festsetzten. Ab 2014 verschärfte sich die Situation. „Wenn wir in den Dörfern waren, um armen Leuten oder Kindern zu helfen, wurden wir von den Taliban attackiert oder es gab Selbstmordanschläge“, berichtet Fawad. Inzwischen gab es immer mehr Drohungen auch gegen ihn selbst – er war zu bekannt geworden. Fawad erinnert sich an den dramatischen Höhepunkt dieser Entwicklung im Jahr 2015: „Ich hatte fünf Damenbekleidungsgeschäfte. Eines davon führte mein Bruder. Normalerweise kommt er um acht Uhr in den Laden. An diesem Morgen haben die Taliban den Laden gesprengt. Und mein Bruder kam um 8.30 Uhr in den Laden, er hatte einfach nur Glück.“ Das Glück blieb an der Seite seines Bruders. Dank eines Vertrags mit der Bundeswehr lebt auch er heute in München.

Steiniger Neubeginn in Deutschland und Angst um die Familie

Um die anderen Familienmitglieder bangt Fawad seit dem westlichen Truppenabzug. 2017 kamen die Taliban in sein Dorf und nahmen der Familie alles. Wohnung, Garten, Land. Fawad selbst musste Afghanistan im selben Jahr verlassen, es war zu gefährlich geworden. Inzwischen ist sein Haus eine Taliban-Polizeistation, wie er gehört hat.

Er erinnert sich zurück an den schweren Anfang in Deutschland. Ja, in Sicherheit. Aber alleine – und in einer Art ständiger Warteschleife. Er bezog seine erste Wohnung am Westpark und wünschte sich nichts sehnlicher als zu arbeiten. Doch eine Arbeitserlaubnis gibt es erst mit entsprechenden Deutschkenntnissen. „Das eine Zimmer, keine Kontakte, ganz allein, nur Kekse gegessen, ich kannte Deutschland nur aus dem Fernsehen. Ich habe neun Monate auf einen Job gewartet, das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich habe gearbeitet, seit ich sechs Jahre alt war!“ Er arbeitet ein Jahr lang in einem Dönerladen, dann lernte er Progeno-Mitglied Florian M. kennen, der eine Art Patenschaft für ihn übernahm, ihn in geschäftlichen Dingen unterstützte und ihm eine Wohnung in der Genossenschaft vermittelte. Nach einem Jahr zog Fawad im PEP ein, und stieg bei einer türkischen Braut- und Abendkleidfirma ein. Bis Corona kam. Laden dicht, ein Rückschlag. Sein Freund Florian unterstützte ihn weiter – und mit seiner Hilfe gelang es Unternehmer Fawad, aufzustehen und weiterzumachen: Mit einem Braut- und Abendmodengeschäft in der Landwehrstraße hat er sich einen Traum erfüllt – wenn auch einen arbeitsintensiven. „Manchmal arbeite ich bis 23 Uhr und schlafe dann im Geschäft.“ Und er macht schon Pläne, möchte expandieren.

Ein spannendes, trauriges und fröhliches Interview zu gleich – mit großartiger Bewirtung. Silvia Renauer im Gespräch mit Fawad

„Die Arbeit gibt mir gute Energie“

Die Arbeit lenkt ihn ab. Von seiner Angst. Vor dem, was jetzt in Afghanistan passiert. Seine Familie ist untergetaucht – hat keine Aussicht auf Ausreise. Freunde vor Ort schießen Geld vor, damit die Familie in Hotels bleiben kann. Denn besonders für die Frauen wäre es viel zu gefährlich, unter freiem Himmel zu kampieren. Fawad nimmt das mit, man merkt, wie er immer schneller und aufgebrachter spricht. „Alle haben die Bundeswehr unterstützt. Aber sie hatten keine Verträge. Jetzt ist das BAMF für sie zuständig. Aber meine Familie hat nicht mal mehr ihre Ausweise – zu gefährlich.“ Und bitter fügt er hinzu, dass viele unberechtigt ausgereist seien, was es nicht leichter erträglich macht. „Damals hat man mir versprochen, ich bekomme Hilfe, wenn meine Familie in Schwierigkeiten gerät, aber jetzt hilft niemand. Jeder sagt nur einen Satz: „Wo ist der Vertrag?“ Und jetzt sitzen 5.000 Leute in Frankfurt – und viele haben keinen Vertrag! Das ist für mich sehr schlecht. Ich werde versuchen, mich an die Presse zu wenden.“

„Die Arbeit gibt mir gute Energie“, sagt Fawad. Und er fühlt sich wohl in der Genossenschaft, ist dankbar für so vieles: Das fröhliche und unbefangene Kinderlachen im Hof. Menschen wie Philipp Terhorst, der ihm in der Corona-Zeit einen Job in seiner Firma zur Überbrückung gegeben hatte. Felizitas, die sich immer Zeit nimmt für ein Gespräch. „Mein größter Wunsch ist es, meiner Familie zu helfen, ein Visum für sie zu bekommen. Aber ich muss auch mein Leben weiterleben. Ich möchte hierbleiben. Und einen Neuanfang mit dem Geschäft machen.“

Das Interview hat mich nachdenklich gemacht. Und für jede Antwort, die ich bekommen habe, sind neue Fragen aufgetaucht. Aber die würde ich gerne anderen Adressaten stellen – unserer neuen Regierung zum Beispiel.

Silvia Renauer | Fotos: Tina Rieger-Gudehus

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