Ich bin sicher „Proaktive Hemmung“ und „beschleunigtes Vergessen“ werden uns nicht im Wege stehen – wir können auf all die Einschränkungen sehr gut verzichten:

Im letzten Artikel zur „Macht der Gewohnheit“ haben Sie vielleicht die Aufgaben mit der Farbtafel durchgeführt und buchstäblich „am eigenen Leib“ erfahren, wie es ist, eine Aufgabe zu lösen, die in direktem Gegensatz zum bisher gelernten und gewohnten Lesen stand (die Farbe des Wortes war zu nennen, z.B. „grün“, das Wort selbst war jedoch rot eingefärbt). Das ist erheblich schwerer als nur Worte zu lesen, da als erste Assoziation „grün“ auftaucht. Woran liegt das?
Proaktive Hemmung: Die Tendenz, Gelerntes zu schützen
Bestehendes Vorwissen oder auch Gewohnheiten verlangsamen oder können sogar neues Lernen immer dann verhindern, wenn das neue (Farbe nennen) in direktem Gegensatz zum bisherigen (Wort lesen) steht.
Der Gehirnmechanismus, der dafür verantwortlich ist, dass wir alles, was wir gelernt haben, aufrechterhalten und bewahren, wird proaktive Hemmung oder auch Interferenz genannt. Damit ist der Effekt gemeint, der von früherem Lernen auf späteres Lernen ausgeht. Proaktiv heißt nach vorne gerichtet. Hemmung bedeutet Überlagerung oder Beeinträchtigung. Proaktive Hemmung bewirkt also, dass bisheriges Wissen oder auch Gewohnheiten und Handlungen das Erlernen und Behalten des neuen Wissens beeinträchtigt.
Dies zeigt sich im Phänomen des beschleunigten Vergessens. Proaktive Hemmung und beschleunigtes Vergessen beeinträchtigen unsere Versuche, neue Dinge zu lernen und bisherige Dinge und Ideen zu verlernen. Sie sind der Grund dafür, warum Menschen Veränderungen nicht mögen und warum Veränderungen so langsam und schwierig vonstatten gehen. Sie sind auch der Grund dafür, warum bisherige Gewohnheiten so hartnäckig bestehen bleiben (old habits die hard).
Mediational Learning
Wenn Sie bereits erworbene Gewohnheiten, Fertigkeiten oder sich als falsch erweisende Auffassungen verändern wollen, d.h., etwas erneut lernen wollen, dann ist dafür ein Vermittlungsprozess zwischen der bisherigen und der neuen Art notwendig. Dies stellt besondere Anforderungen an Sie, denn Sie befinden sich zwischen der bisherigen und der neuen Art, etwas zu tun. Hierzu muss zunächst ein Ausgleich zwischen den bisherigen und den neuen Konzepten hergestellt werden und sodann das neu Gelernte bewahrt bleiben, ohne dass der eingebaute Schutzmechanismus, die proaktive Hemmung (PH) wieder – und das automatisch – aktiviert wird.
Ausgangspunkt dieser Methode ist stets das, was verändert werden soll (und nicht das, was neu gelernt werden soll): das bisherige Konzept, die bisherige Idee, die bisherige Gewohnheit.
Dr. Adi Winteler
Ein schönes Beispiel für erneutes Lernen ist der Umstieg von einer Gangschaltung auf eine Automatik. Der linke Fuß tritt automatisch ins Leere und landet auf dem Boden, der Versuch, einen Gang einzulegen, schlägt fehl, da nur noch F, R, N und P vorhanden sind. Dieses erneute Lernen können Sie jedoch in einer schrittweisen Abfolge erleichtern.
Wir erläutern dies im Folgenden am Beispiel der Farbtafel:

Im ersten Schritt wird die bisherige Art des Lesens charakterisiert: Bisher lese ich die Wörter. Dies können sie für sich als die bisherige Art des Lesens bezeichnen und auch laut aussprechen. Letzteres ist wichtig für das später erfolgende Unterscheidungslernen zwischen bisheriger und neuer Art.
Danach sagen Sie für sich, dass Sie eine neue Art des Lesens lernen wollen. Ihre Zustimmung sichert die bewusste Aufmerksamkeit für die neue Art. Sodann stellen Sie für sich die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der bisherigen und der neuen Art fest. Dies könnte z.B. wie folgt aussehen:
BISHERIGE ART des Lesens
Ich lese die farbigen Wörter so, wie sie im Text erscheinen (rot, grün, blau etc.).
xxxxxxx
xxxxxxx
NEUE ART des Lesens
Ich nenne die Farbe, in der das Wort geschrieben ist. Die Farbe, z.B. rot, unterscheidet sich vom geschriebenen Wort, z.B. grün. Ich nenne die Farbe.
Diese Prozedur sollten Sie zunächst möglichst für jedes einzelne Wort wiederholen. So mechanisch dies klingen mag: Die Wiederholungen sind für das Unterscheidungslernen (die Unterscheidung zwischen der bisherigen Art des Lesens und der neuen Art) wichtig. Danach verfügt das Gehirn über beide Alternativen und kann in der Zukunft zwischen diesen auswählen.
Schlussfolgerung
Die vorgestellte Strategie des Mediational Learning ist dann anzuwenden und zielführend, wenn neues gelernt werden soll, das im Widerspruch zu bereits gelernten Gewohnheiten steht. Wenn es um die Erweiterung und Ergänzung bereits vorhandener Wissensbestände geht, dann ist konventionelles Training sinnvoll und erfolgreich. Es kann sein, dass Ihr Gehirn bereits während der Lektüre dieses Textes seinen natürlichen Schutzmechanismus der proaktiven Hemmung aktiviert hat und Ihnen jetzt suggeriert, dass es besser sei, bei der altbewährten Methode des Lesens zu bleiben und sich nicht auf die ungewohnte, davon abweichende neue Lesemethode einzulassen. Betrachten Sie dies einfach als einen weiteren Beweis für die Gültigkeit der Mediational Learning Theory.
s.a.: Winteler, A. & Krauß, T. (2005). Mediational Learning: Zur Veränderung von Lehrkonzepten. In: Welbers, U. & Gaus, O. (Hrsg.). The Shift from Teaching to Learning. Blickpunkt Hochschuldidaktik, Bd. 116. S. 381-385. Bielefeld: Bertelsmann.
