Wie kommen wir gemeinsam zu guten Entscheidungen?

Vorwort: Der folgende Artikel erschien in der Ausgabe #7 der Prinzenpost, das ist das Quartiersmagazin des Prinz-Eugen-Parks. Wir dachten, dass der Text auch für die Freihamer interessant sein könnte, daher nehmen wir ihn hier nochmals mit ins Progeno Magazin auf. In der kommenden Ausgabe #8 der Prinzenpost erscheint dann noch eine Fortsetzung zum Thema „Soziokratie“.

Wo Menschen zusammenleben, müssen Entscheidungen getroffen werden. Gerade bei uns im Quartier gibt es viele Gelegenheiten dazu! Manchmal sind die Regeln zur Entscheidungsfindung vorgegeben, aber oft stehen wir vor der Aufgabe, selbst Regeln zu entwickeln – gerade in freien Zusammenschlüssen wie Bewohnergruppen, Quartiersrat, Redaktionsteam oder anderen. 

Jeder kennt natürlich Abstimmungen und manchmal ist es sinnvoll und auch am einfachsten, wenn die Mehrheit entscheidet. Aber haben Sie nicht schon auch Situationen erlebt, wo Ihnen das gegen den Strich ging? Weil zum Beispiel die berechtigten Interessen einer Minderheit einfach überstimmt wurden? Oder weil sich eine kleine lautstarke Gruppe gegenüber einer schweigenden Mehrheit durchgesetzt hat?

Es wäre doch toll wenn es eine Methode gäbe, mit der man automatisch immer das „beste“ Ergebnis erzielt – gerecht, Minderheiten berücksichtigend, aber auch so, dass Entscheidungen schnell getroffen werden, und so, dass möglichst viele die Entscheidung auch mittragen!

Wie sieht sie also aus, die „ideale“ Methode der Entscheidungsfindung? Gibt es so etwas überhaupt?

Also anders ausgedrückt, wenn eine Gruppe vor einer bestimmten Entscheidung steht, dann gibt es ja oft soviele unterschiedliche Meinungen wie es Mitglieder der Gruppe gibt. Wie findet man nun den Willen der „Gruppe“ heraus? 

Die schlechte Nachricht vorweg: Ein solches „ideales“ Verfahren gibt es nicht. Viele Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker haben sich hierüber den Kopf zerbrochen, und die Vielzahl der in den Demokratien der Welt vorhandenen Verfahren der Willensbildung zeigt schon, dass es hier offenbar keinen Stein der Weisen gibt – obwohl man lange geglaubt hat, dass es so etwas geben muss. Vor einigen Jahren hat der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Kennth Arrow bewiesen, dass es ein solches Verfahren prinzipiell nicht geben kann – unter sehr allgemeinen Voraussetzungen (näheres unter https://de.wikipedia.org/wiki/Arrow-Theorem – Achtung – nicht leicht zu lesen). 

Also müssen wir offenbar damit leben, das es kein ideales Entscheidungsverfahren gibt und jede Entscheidung – egal wie sie getroffen wird – unvollkommen ist. 

Aus vielen Gesprächen hat sich gezeigt, dass es wichtig ist, nicht nur das Entscheidungsverfahren zu betrachten, sondern den ganzen Prozess der Entscheidungsfindung in den Blick zu nehmen – mit allen Beteiligten, denn Entscheidungen haben immer auch etwas mit Beteiligung zu tun. Es hat auch mit der Zusammensetzung der Gruppe zu tun: In einer weitestgehend anonymen Stadtgesellschaft braucht man andere Verfahren als in einer kleinen Gruppe aus engagierten Bewohnern einer Hausgemeinschaft, die über lange Zeit eng zusammenleben.

In den Entscheidungsverfahren der „großen“ Politik ist es z.B. völlig selbstverständlich, Gruppen von Bürgern auszuschließen – es gibt eine 5%-Klausel, damit politische Prozesse überhaupt effizient ablaufen können. Das wäre in einer Hausgemeinschaft, Bewohnergruppe oder in einem Redaktionsteam sicher undenkbar. 

Daher ist eine der ersten und wichtigsten Erkenntnisse: Eine Gruppe sollte sich intensiv mit dem Prozess der Entscheidungsfindung beschäftigen und das für sie passende Verfahren im Dialog herausfinden. Auch dabei wird es nicht das „one fits for all“-Verfahren geben, sondern man wird vielleicht für verschiedenen Arten von Entscheidungen unterschiedliche Verfahren brauchen. 

Was sind also Elemente, die beim Prozess der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden müssen? 

  1. Wer nimmt an der Entscheidung teil? Muss die ganze Gruppe mitentscheiden oder reicht ein Teil, z.B. die gerade zufällig bei einer Besprechung anwesenden, auch wenn diese nur einen kleinen Teil der gesamten Gruppe repräsentieren?
  2. Worum geht es? Wird über etwas entschieden, was leicht wieder rückgängig gemacht werden kann, oder handelt es sich um eine Entscheidung mit langfristigen, schwerwiegenden Folgen? Wie dringend ist die Entscheidung? 
  3. Wer ist betroffen, und wie? Manche Entscheidungen betreffen einzelne Personen unmittelbar und schwerwiegend, während andere nicht oder nur am Rande betroffen sind. Haben die Personen, die besonders betroffen sind, einen größeren Einfluss auf die Entscheidung wie die, die wenig betroffen sind?
  4. Haben alle Beteiligten den gleichen Informationsstand? Viele Probleme bei Entscheidungsfindungen kommen daher, dass viele Beteiligte nicht genau wissen, worum es eigentlich geht, oder der zu entscheidende Punkt ist nur ungenau beschrieben. Es kann sehr mühsam – aber auch sehr lohnend – sein, alle auf den gleichen Stand zu bringen!
  5. Hat die Gruppe überhaupt die Kompetenz oder die Möglichkeit, die einmal getroffene Entscheidung auch durchzusetzen? Es kann sehr frustrierend sein, Zeit und Mühe in einen Entscheidungsprozess zu stecken, um hinterher festzustellen, dass man gar keine Möglichkeit hat, die mühsam getroffene Entscheidung auch tatsächlich umzusetzen.

Die Aufzählung kann sicher noch erweitert werden, zeigt aber vielleicht schon einmal, dass neben dem Entscheidungsverfahren noch viele andere Aspekte eine Rolle spielen. 

Aber welche Möglichkeiten gibt es dann für die eigentliche Entscheidung, und für welche Arten von Entscheidungen eignen sie sich?

Auch wenn es eine Vielzahl von Varianten gibt, möchte ich doch eine Einteilung in drei grobe Kategorien vorschlagen.

  1. Hierarchische Verfahren
    Hier wird die Entscheidungskompetenz an einige wenige Personen delegiert, die dann eigenverantwortlich handelt. Beispiele sind politische Ämter, Unternehmensführung und Management, also Bereiche, in denen hohe Fachkompetenz und schnelle Entscheidungen notwendig sind. Eine formale Beteiligung findet nicht statt, es gibt aber verschiedene Möglichkeiten, die Gruppe einzubeziehen – z.B. durch Einholung eines Meinungsbildes.
  2. Demokratische Verfahren
    Hier wird die Entscheidung von der gesamten Gruppe durch Abstimmung gefällt. Es gibt eine Vielzahl von Varianten – unterschiedliche Mehrheitserfordernisse, Erforderniss eines Quorums, verschiedene Verfahren, das Stimmrecht zu verteilen oder unterschiedlich zu gewichten. 
  3. Konsens-Verfahren
    Hierbei wird versucht, in der Gruppe einen möglichst großen Konsens zu erzielen. Auch hier gibt es die unterschiedlichsten Varianten – vom reinen Konsensprinzip, wo so lange diskutiert wird, bis alle sich einig sind, über den „Konsens minus 1“, bis hin zu soziokratischen Verfahren, bei denen man nicht versucht, einen vollständigen Konsens zu erreichen, sondern die Entscheidung mit dem geringsten Widerstand zu fällen.

Es ist vielleicht deutlich geworden, dass das Thema „Entscheidungsfindung“ nicht mit einfachen Rezepten zu lösen ist, sondern einer genauen Beschäftigung mit dem Einzelfall und der individuellen Gruppe bedarf. Im Prinz-Eugen-Park wurde hierzu schon in vielen Gruppen experimentiert und es sind viele Erfahrungen gesammelt worden.

Christoph Mussenbrock

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert