Nachtsichtgeräte, Stiefel, Drohnen: Khrystyna Stotska aus Freiham organisiert Ausrüstungstransporte an die ukrainische Front
Fünf Minuten zu früh bin ich an diesem sonnigen Samstagvormittag, an dem ich an der Klingel von Khrystyna in Freiham in der Gustl-Bayrhammer-Straße läute. Wir sind zum Interview verabredet. Und ich klaue ihr die fünf Minuten, die einem als Mutter von kleinen Kindern normalerweise reichen, um noch schnell den Tisch abzuwischen, die Schlafanzüge der Kinder von der Couch verschwinden zu lassen oder die Legosteine in die Kiste zu werfen. Das ganz normale Chaos halt. Doch die Grenzen zu einem normalen Alltag sind in Khrystynas Leben seit über einem Jahr verschwommen.

Ein bisschen gehetzt, aber fröhlich bittet sie mich an ihren großen Esstisch im Wohnbereich ihrer hellen Wohnung, eine leichte Brise weht durch die helle Erdgeschosswohnung. Mann und Kinder sind ausgeflogen, Khrystyna hofft auf Ruhe für unser einstündiges Interview, vergebens – denn das Handy steht nicht still. Irgendwie bezeichnend für das Leben der jungen Ukrainerin aus dem Gebiet Ivano-Frankivsk, die parallel Spenden eintreibt und davon einkauft für Ausrüstungs- Transporte an die Front, als IT-lerin arbeitet und ihre Familie mit zwei kleinen Töchtern managt.
Wir haben uns gerade hingesetzt, da ruft ihr Mann an, der die Kinder zur ukrainischen Samstagsschule bringen soll und die Erzieher nicht findet. Khrystyna legt auf, versucht die Lehrerin zu erreichen und gleichzeitig kommt ein wichtiger Anruf rein: Sie legt auf und übersetzt für mich: „Das war ein militärischer Ausrüster, bei dem ich 40 feuerfeste Anzüge für Panzerfahrer eingekauft habe. Vorhin habe ich schon ein Nachtsichtgerät gekauft.“ Sie erklärt, dass sie schnell sein muss – jeder Tag zählt für die Soldaten an der Front. Deswegen legt auch jede Woche ein Transport mit Nachschub ab, Fahrer die ehrenamtlich Equipment auf einer Route durch Deutschland einsammeln und in die Ukraine fahren.
Khrystyna schiebt einen Käsekuchen in den Ofen und legt einen dicken Stapel Rechnungen auf den Esstisch: „Das sind allein für 2022 Rechnungen über 100.000 Euro… Ein Schutzweste kostet 600€, ein Helm ungefähr 300€, Funkgeräte 600€ pro Stück, Erste Hilfe Sets für 80€, ein Nachtsichtgerät bis zu 3.500€, eine Drohne mit Wärmebildkamera 7.000. Dazu Stiefel, Schutzplatten für Westen. Mein Konto ist oft im Minus.“ Beziehungsweise war es. Denn ihre Bank hat ihr am Vortag mitgeteilt, ihr Konto zu kündigen und die Schufa zu benachrichtigen. Was sie tue, verstoße gegen die Regeln. Spenden einsammeln dürften in Deutschland nur Stiftungen, aber nicht für militärisch nutzbare Ausrüstung im großen Stil.

Und jetzt? Die studierte Mathematikerin bleibt positiv, irgendwie gehe es schon weiter – dann muss das Geld eben auf anderen Konten eingehen. Sie verfügt über ein weit verzweigtes Netzwerk von Unterstützern und Freunden, das sie sich in fast 10 Jahren aufgebaut hat, kennt seit Beginn des russischen Angriffskrieg auf die Ukraine alle Preisentwicklungen und die günstigsten Händler.
Ihre Aktivitäten begannen mit den Studentenprotesten auf dem Maidan in Kyiv im Jahr 2014. Eine friedliche Revolution, die vom damaligen Machthaber Janukowitsch unter dem Einfluss Russlands blutig niedergeschlagen wurde. Damals arbeitet Khrystyna als Au Pair in Deutschland, ihr jetziger Mann studiert in Kiew. Freunde von ihnen werden geschlagen, ins Gefängnis gebracht. „Studenten und selbstbewusste Leute, die sich einfach ein besseres Leben wünschten und verstanden, dass das System nicht weiter funktionieren darf,“ erinnert sie sich aufgebracht. Schon damals beginnt sie mit Freunden Helme und Schutzwesten, Bundeswehrsachen zu suchen für die Studierenden in der Ukraine. „Damals kostete eine Bundeswehrhelm aus Kevlar 30€. 2022 haben wir sie für 500€ bekommen, Wahnsinn.“
Zwei Jahre später erhält ihr Mann ein Visum, darf zu ihr nach München. „Wir wohnten überall. In einer Bibliothek auf Matratzen, in einem Zimmer, schließlich fanden wir eine kleine, dann eine größere Wohnung. Da wurden wir Nachbarn von Familie Scholz.“ Oksana (hier könnt Ihr mehr über sie erfahren) kannte sie da bereits aus ihrer Studentenzeit. Es waren auch die Scholzens, die ihnen von der Progeno Genossenschaft erzählten. „Das ist cool“, hätten sie gesagt, „macht das auch!“ Khrystyna bedauert ein bisschen, dass sie sich neben Reinigungsarbeiten nicht noch mehr in der Genossenschaft einbringen kann, ihr Engagement für die ukrainische Heimat beansprucht sie stark. Aber: „Wir fühlen uns wohl. Wir sind sehr glücklich hier!“ sagt sie, berichtet auch dankbar über Hilfe von Mit-Genossinnen und Genossen. Besonders eines Nachbarn, Paul, der sie vor einem Jahr finanziell großzügig unterstützt hat. Sowohl beim Aufbau eines Mutter-Kind-Clubs mit Kinderbetreuung als auch bei einem Integrations-und Deutschkurs, den ihre gute Freundin Anna für geflüchtete Mütter organisiert hat.
Die dramatischen Ereignisse vor einem Jahr stellten das Leben von Khrystyna und ihrem Mann auf den Kopf. „Ich konnte nicht glauben, dass Putin wirklich die ganze Ukraine unter Feuer setzen würde. Ich dachte, okay, der Osten, aber doch nicht Kyiv, 600km entfernt oder meine Uni-Stadt Lemberg, das nur 100km von der polnischen Grenze liegt. Unsere Städte wurden voll bombardiert im 21. Jahrhundert! Mit Raketen! Auf Leute, die dort einfach leben, so wie wir hier!“ Noch immer merkt man ihr die Fassungslosigkeit an. Nach dem ersten Schock beginnt sie zu handeln. Sie kündigt in ihrer IT-Firma, setzt ein halbes Jahr aus, um Unterstützung für ihre Heimat zu mobilisieren. „Mein Mann hat sehr mit mir geschimpft, weil ich immer am Handy hing. Acht Stunden am Tag. Vollzeit, unbezahlt.“ Inzwischen ist fast schon Routine in ihr Leben zwischen Bestellkartons und Rechnungen eingezogen.

Viele Prozesse seien fast schon automatisiert, gute Kontakte zu Händlern hergestellt. Nach wie vor treibt sie der Zeitdruck um. „Wir waren ein Jahr nicht im Urlaub. Jede einzelne Woche bin ich da und schicke die Sachen in die Ukraine. Es gab keine Woche, wo ich am Samstag oder Sonntag zuhause war.“

Ihr Hauptkommunikationskanal ist Facebook. Dort melden sich die Soldaten, teilen mit, was gebraucht wird, dort ruft sie zu Spenden auf und veröffentlicht unter Nicknames getätigte Spenden. Transparenz ist ihr wichtig, sie betont die Legalität ihrer Aktivitäten, zu wichtig ist ihr, dass die Hilfe weitergeht. Denn für die Kämpfer kann jedes technische Hilfsmittel über Leben und Tod entscheiden. Sie erzählt von den Wagner-Gruppen, die sich nachts bewaffnet bis an die Zähne an die Standorte der Verteidiger heranpirschen, um sie zu töten. Die Söldner seien wesentlich besser ausgerüstet als die russischen Soldaten – und viele ukrainische Soldaten.

Und so werde jedes Nachtsichtgerät, jede Wärmebildkamera, jede Schutzweste überlebenswichtig. Khrystyna öffnet die Fotos in ihrem Whatsapp-Stream, zeigt mir Bilder von Freunden, Verwandten, Vätern mit ihren Familien beim Wandern – die nicht mehr leben. Ein Bild von ihrem Onkel, im normalen Leben Schuldirektor mit Krawatte – jetzt in Camouflage mit Maschinengewehr.

Aktuell ihr größter Wunsch: „Schnelle Entscheidungen. Wir brauchen Waffen. Wir brauchen die Unterstützung der Welt. Wenn wir genug Ausrüstung haben, dann schaffen wird das. Russland muss kapitulieren, weil es ein Terroristenland ist!“ Besonders enttäuscht ist sie von Russinnen und Russen, auch aus dem eigenen Bekanntenkreis in Deutschland, die der Putin’schen Propaganda aufsitzen. „Russen, die seit 15 Jahren hier leben, teilweise deutsche Pässe haben, aber den ganzen Tag russisches Fernsehen sehen und sagen: Putin macht alles richtig. Die möchte ich fragen: Was machst du dann in einem NATO-Land?“
Doch für Grübeln ist keine Zeit. Längst gehen neue Anfragen auf dem Handy ein. Und an der Tür klingelt Freundin Anna, die auch zwei kleine Mädels hat um mit ihr zum Sammelpunkt für das Equipment zu fahren. Jede Minute zählt. Und Khrystyna ist froh, dass sie nicht alleine ist. „Wir schaffen das“, sagt sie mit fester Stimme.
Hier noch Fotos, die eine Geschichte in sich erzählen:
„Das Nachtsichtgerät, dass ich während unseres Interviews in der Hand gehalten habe, ist bei Vitali im Einsatzgebiet angekommen … Eine gute Ausrüstung ist wichtig im täglichen Überlebenskampf an der Front … im zivilen Leben Vater von zwei Kindern.“ (Fotos: Vitali B.)




