Welche Werte treiben uns an und um?

Über Gemeinschaftssinn und Selbstverwirklichung – was kann uns Schulz von Thun dazu sagen?

In der Progeno erleben wir täglich Situationen im dynamische Spannungsfeld von Gemeinsschaftssinn und Selbstverwirklichung. Dahinter verbergen sich unsere meist unausgesprochenen Wertvorstellungen. Der Kommunikationswissenschaftler Schulz von Thun hat diese als gewichtige Leitprinzipien unserer Kommunikation erkannt. Letzlich geht es um die Frage, wie Gemeinschaft gelingen kann.

[Intro] Reden, insbesondere mit anderen Menschen, ist nicht frei von Mühe und Risiko. In der letzten Ausgabe stand hier Christophs Schnelleinführung in die vier Seiten der Kommunikation nach Schulz von Thun – aus Sender- und Empfängersicht: Die Ampel ist grün… Daneben stand mein alltagspraktischer, banal provokanter Versuch, das aus persönlicher Warte auszubuchstabieren: Wir müssen reden…
Wir setzen dieses Nachdenken in diesem Beitrag hier fort. Den Fokus liegt diesmal auf Werte, die trennen wie auch verbinden können. Was bedeutet das für die Kommunikation innerhalb unserer Genossenschaft?

Die Progeno eG schreibt auf der Internet-Startseite zu Freiham als ersten Spiegelpunkt: Wir legen „Wert auf Sinn für Nachbarschaft und Gemeinschaft“. Wer unsere Bau- und Bewohner:innentreffs kennt, dürfte das nicht überraschen. Interessant ist dieses Duo dennoch. So ist die Nachbarschaft doch ein abgegrenzter Bezugsrahmen zwischen Menschen, in einem Dorf vielleicht durch einen Zaun getrennt. Gemeinschaft dagegen ist etwas eindeutig Überindividuelles, auch wenn es hier ebenfalls nicht zuletzt auf Individuen ankommen dürfte: Wenn Gemeinschaft gelingt, dann auch gerade, weil sich Menschen aufeinander einlassen wollen und können.

Wenn Gemeinschaft gelingt, dann auch gerade, weil sich Menschen aufeinander einlassen wollen und können.

Worauf lässt sich also eine/r mit uns ein, gerade wenn er/sie im Leben bislang nur den klassischen, großstädtischen Markt mit schlüsselfertigen Wohnungen kennengelernt hat? Die Antwort dürfte nicht nur Neumitglieder interessieren: Wie weit müssen wir als gelingende Gemeinschaft dieses Aufeinander-Einlassen dauerhaft fordern und fördern, ohne das Individuum mit seinen Ecken und Kanten und seinen privaten Interessen zu überfordern? In den genannten Mitgliedertreffs mit ihren diversen Themen ist es mit Händen zu greifen: Diese Aufgabe ist kein Selbstläufer. Und zu Ende oder abgeschlossen wird sie nie sein.

Mindestens eine unserer menschlichen Eigenschaften erweist sich dabei als heikel und hartnäckig: Wir sind Gewohnheitstiere. Wir nehmen gerne logische Abkürzungen oder vertrauen komplett auf das Bauchgefühl. Viele Entscheidungen, Haltungen aber auch Argumente (!) entstehen also unter unserem kognitivem Radar. Da fließen Prägungen und Erfahrungen ein, die häufig jenseits unseres Bewusstseins liegen. Ein wesentlicher Aspekt dabei sind häufig unausgesprochene Wertvorstellungen. Und machen wir uns nichts vor: Wenn Werte im Spiel sind, haben Fakten, die nicht ins Bild passen, häufig schlechte Karten. Mein eindrücklichstes Beispiel dazu: Die sich zuspitzende Klimakrise, die vor allem eine tragische Kommunikations- und Umsetzungskrise ist.

Die Bedeutung von Werten hat auch der Kommunikationswissenschaftler Schulz von Thun erkannt. Sein Modell „Miteinander reden“ berücksichtigt Werte als gewichtige Leitprinzipien. Überraschend dabei: wir sind in der Regel auch von einem gegenläufigen Wert mit beeinflusst, der zum ersten in einem positiven Spannungsverhältnis steht, im gelungenen Zusammenspiel aber für Maß und Mitte bzw. Angemessenheit sorgen kann. Ein Beispiel: Wenn wir uns etwa in diesen Tage mit Menschen treffen, dann vertrauen wir darauf, dass sie uns durch eigenverantwortliches Handeln vor einer höheren Infektionsgefahr mit Corona schützen. Aus Vorsicht verzichten wir zudem aber auch auf unnötige Körperberührungen. Im Einzelfall gilt es, angemessen beide Ansprüche von Vertrauen und Vorsicht auszubalancieren. Je nach Umständen (etwa allg. Inzidenz, Impfstatus und Risikogruppe etc.) würden wir diese Balance immer neu austarieren.

Auch Gemeinschaftssinn steht in einem dynamischen Spannungsverhältnis zu einem anderen für sich positiven Wert, der „Selbstverwirklichung“. Tatsächlich hilft der uns, einen gesunden Gemeinschaftssinn besser abzugrenzen: Denn ohne Selbstverwirklichung als Korrektiv könnte Gemeinschaftssinns schnell als reine Notwendigkeit zur Unterordnung und Selbstlosigkeit verstanden werden. Dann drohten wohl Passivität und Rückzug statt befruchtender Austausch. Ob wir dann überhaupt noch verantwortungsbewusste Entscheidungen hinbekämen?! In seinem Modell bezeichnet Schulz von Thun jedenfalls die Selbstlosigkeit als entwertende Übertreibung von Gemeinschaftssinn.

Auch Gemeinschaftssinn steht in einem dynamischen Spannungsverhältnis zu einem anderen für sich positiven Wert, der „Selbstverwirklichung“

Es gibt also eine Gefahr, dass entwertende Übertreibungen das Spiel machen. Bei Progeno fallen mir dafür aus jetzt 5 Jahren nur wenige Einzelbeispiele ein. Viel häufiger und prägender sind die Beispiele, in denen positiven Werte sich durchsetzen und langfristig harmonieren. So ermöglichen viele unserer „Gemeinschaftsleistungen“ erst individuelle Verwirklichung – und umgekehrt! Ein Paradebeispiel liefert unsere Holzwerkstatt. Die ist nicht nur Labor für die „Selbstentwickler“. Sie ist ebenso eine ad-hoc Ressource für alle, die etwa mal eine lockere Holzleiste festleimen oder ein Taubengitter (hier wiederum für die Gemeinschaft!) bauen wollen. Gäbe es den Raum mit seinen Initiatoren und Expert:innen nicht, wären wir alle schlechter dran. Partikularinteressen und Gemeinschaftsinteressen bedingen und ermöglichen sich hier also gegenseitig. Ist das ein Zufall? Ich würde sagen eher das Ergebnis absichtsvoller Planung, Offenheit und gelebten Gemeinsinns.

Beispiel: Werte-/Entwicklungsquadrat zu „Gemeinschaftssinn“ nach Schulz von Thun

Wenn unsere Diskussionen aber abdriften und wir tatsächlich abwägen zwischen den übertriebenen Ausformungen – etwa einer für sich behaupteten (und von anderen eingeforderten) Selbstlosigkeit versus einer anderen unterstellten Egozentrik – dann werden wir die Debatte und ihre möglichen Ergebnisse sicherlich nicht als gelungen wahrnehmen. Zwei dürftige Werte lassen sich kaum zu einem guten Paket verbinden. Wird es der erwartbare kleinste gemeinsame Nenner, dann verlieren alle. Schulz von Thun spricht hier von einer Überkompensation oder der Flucht aus einem Unwert/Extrem in das andere.

Was lernen wir hieraus für gute Kommunikation bei Progeno? Hier meine kurz und knapp meine Schlussfolgerungen zur Diskussion:
1) Lasst uns die positiven Tugenden (bitte beide!) und damit die ganze Bandbreite der positiven Absichten (!) in unseren Argumenten in den Fokus nehmen.
2) Wenn wir Entwertendes hören oder selbst denken, sollten wir das kritisch hinterfragen bzw. offen ansprechen und bewusst korrigieren.
3) Es lohnt sich dafür selbstkritisch, sensibel und prinzipiell ergebnisoffen und anschlussfähig zu sein – so sehr uns auch in die eigene bestechende Argumentationskette gefallen mag.
4) Unser besonderes Augenmerk liegt auf der Qualität des Diskussions- und Entscheidungs-prozesses. Damit vermeiden wir unnötige Kränkungen, Scheindebatten und -Lösungen.
5) Auf allzu strategische und verkürzte Argumente (mit Subtext, doppeltem Boden) verzichten wir daher besser.
6) Das gerechte Argumentieren mit Maß und Mitte und überhaupt eine gesunde Debattenkultur, die zu uns passt, müssen wir üben.

Als Start dafür hier eine erste Aufgabe. Die Ergebnisse würde ich gerne als Ausgangspunkt nutzen, um in einem der nächsten Bewohner:innentreffs ehrlich und offen die Ansprüche an unseren Innenhof zu diskutieren.

Also: Komplettiert doch bitte mal – ganz Schulz von Thun folgend – das Wertequadrat um den zum Anspruch/Wert „Ruhe“. Meine zwei Hilfsfragen fürs Befüllen wären:
(1) Was ist die komplementäre positive Tugend zur Ruhe. Ohne die, sollte eine ausgewogene Lösung nicht zu finden sein.
(2) Was wären die zwei entwertenden Übertreibungen, die wir im Sinne eines guten Kompromisses besser vermeiden wollen?

Nur Mut. Es wird viele gute Lösungen geben und ich bin auf Eure Rückmeldungen gespannt. Lasst uns am größten gemeinsamen Vielfachen bei Progeno zusammen weiter werkeln!

Übung: Werte-/Entwicklungsquadrat zum „Ruhe“ nach Schulz von Thun

Daniel Scholz

2 thoughts

  1. Hallo Daniel,
    bin ich hier richtig zum Beantworten der interessanten Fragestellung oben?

    Meine Werte-Entwicklungsquadrat sähe so aus:

    Ruhe. Lebendigkeit
    Starre. Chaos

    Viele Grüße
    Claudia

    1. Danke, Claudia! Finde ich stimmig und zugleich auch spannend. Du empfindest Ruhe hier im Kern auch als Ordnung oder Struktur.
      Wir haben häufig verschiedene Vorstellungen im Kopf. Ich selbst dachte an friedhofsruhe, ebenfalls Lebendigkeit und Lärm… auch darüber kann man diskutieren. Ich freue mich auf baldige Begegnung in der Genossenschaft mal wieder… nochmal danke! Daniel

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