„Geht nicht, gibt’s nicht“ bei Oksana

Porträt einer Macherin!

Mit eisernem Willen hat sich die gebürtige Ukrainerin Oksana ihr Leben in Deutschland aufgebaut

Es ist ein sonniger, fast sommerlicher März-Sonntag, als mich Oksana Scholz zum Interview auf unserem Balkon besucht. Die Vögel zwitschern, rund um den Sandkasten im Hof herrscht fröhlicher Rummel, und sogar den Sonnenschirm muss ich schon aufspannen. Nichts an diesem Tag könnte weiter weg von dem sein, was in Oksanas alter Heimat, der Ukraine passiert. Es ist das Wochenende, an dem die Debatte über die Flugverbotszone hochkocht. Die Rolle der NATO, die Rolle der EU, die Rolle Deutschlands. Und irgendwo da unten im Hofgetümmel – da spielen Oksanas zwei kleine Nichten. So ein schönes, unbekümmertes Leben, das hatten die Kleinen bis vor kurzem auch in der Ukraine – bis zu ihrer Flucht. Doch diese Geschichte zu erzählen, dazu sind sie noch nicht bereit. Und so disponiere ich kurzerhand um – und versuche die von ihrer Tante Oksana, unserer umtriebigen und fröhlichen Nachbarin, zu erzählen. Und diese Geschichte, die ist so spannend – und eigentlich auch so lang, dass sie nicht in die zwei Tassen Kaffee passt, die vor uns stehen.

Oksana an ihrem Lieblingsort, dem Garten (Bild: Mariana Serdynska)

„Reisen Reisen Reisen“ – vom unbändigen Freiheitsdrang

Mich interessiert brennend, warum Oksana vor 16 Jahren ihre Heimat verlassen hat. Ein Land, über das ich mir, wie sicherlich viele, bis zum 24. Februar dieses Jahres nie – und wie sich jetzt zeigt – vielleicht zu wenige Gedanken gemacht habe. Allein die vielen unbekannten Ortsnamen: Kyiv, Charkiv, Mariupol – oder Lwiw, der Krieg hat uns geografisches Neuland betreten lassen. Oksana wächst in Ivano-Frankivsk auf, unweit von Lwiw. In einem neunstöckigen Hochhaus mit Innenhof. Sofort tauchen die Bilder von brennenden Hochhäusern in zerbombten ukrainischen Städten in meinem Kopf auf. Ich zwinge mich, sie beiseite zu schieben. Sie entsprechen ja nicht Oksanas Kindheit, die sie mit ihren beiden Schwestern, Zwillingen, in einem bürgerlichen, friedlichen Haushalt verbracht hat. Doch schon ganz früh verspürt sie den Wunsch rauszukommen, fühlt sich beengt und eingeschränkt in diesem post-sowjetischen Land. „Ich habe mich immer gefragt: Was hat mir die Ukraine gegeben? Meine Eltern, große Familie, die Berge. Sonst nichts.“ Immerzu fehlt es Geld, nur zwei Urlaube kann sie überhaupt mit ihrer Familie machen. Sie erkämpft sich einen Studienplatz, doch die attraktive Hauptstadt ist ausgeschlossen, zu teuer das Studium, bei einer staatlichen Unterstützung von nur fünf Euro im Monat. Auch eine freie Fächerwahl ist nicht möglich, und so bleibt als einzige Möglichkeit das Englisch-Studium in ihrer Heimatstadt. „Eigentlich wollte ich nur weg. Reisen, Reisen, Reisen.“

München tief verschneit: „Liebe auf den ersten Blick“

Der Gedanke lässt sie nicht mehr los und so nutzt sie 2004 während ihres Studiums die Möglichkeit über die AIESEC-Demokratie Projekte zeitlich befristet nach Breslau zu gehen. In Polen bekommt sie eine Idee von Europa, ein Erweckungserlebnis muss das gewesen sein – ich sehe das Funkeln in Oksanas Augen, als sie von dieser intensiven, aber zu kurzen Zeit erzählt. Sie hat Glück, weil sich für ein weiteres Projekt niemand bewirbt, kann sie ein zweites Mal an dem Programm teilnehmen. Danach wieder dunkle Perspektivlosigkeit, Rückkehr in die Ukraine, Hoffnungslosigkeit. Doch Oksana gibt nicht auf, recherchiert, welche Möglichkeiten sie hat, wieder in Europa Fuß zu fassen. Die einzige Chance: Ein Au Pair-Aufenthalt in Österreich. Keine leichte Zeit, sie arbeitet für eine Familie in einem kleinen Ort, bekommt kaum Geld, hat kein Auto, Freizeit nur am Wochenende. An einem dieser Wochenenden reist sie nach München. Es ist eines, an dem der März zeigt, wie er auch sein kann, wenn er nicht so ist wie an diesem Sonntag auf dem Balkon. Mit meterhohem Schnee auf den Autodächern. Mit der U-Bahn fährt sie in die Stadt, und als sie am Marienplatz aussteigt, so erinnert sich Oksana, fühlt sie „Liebe auf den ersten Blick“, von nun an besessen von dem Gedanken, wie sie hier nur bleiben könnte.

Aufenthalte mit „Verfallsdatum“: vom Kampf ums Bleiben

Wieder recherchiert sie. Die Eintrittskarte diesmal: Ein Freiwilliges Ökologisches Jahr. Sie heuert bei Green City München e.V. an. und mitorganisiert fortan ökologische Events, u.a. Aktionen beim Street Life Festival oder Blade Night. „Das war die beste Zeit meines Lebens“, erinnert sie sich an eine Zeit voller Freiheit, Idealismus und Aufbruch. Sie wohnt zur Untermiete in Neuperlach, verdient sich etwas hinzu mit Russisch-Unterricht. Doch auch diese Zeit hat wieder ein Verfallsdatum, und Oksana muss sich wieder neu orientieren, um bleiben zu können. Sie bewirbt sich für einen Studienplatz, für den sie ihre Deutschkenntnisse perfektionieren muss, arbeitet tagsüber, lernt abends. „Ich erinnere mich, dass ich in dieser Zeit nur eine Stunde Freizeit pro Tag hatte, da bin ich laufen gegangen, ansonsten habe ich nur gearbeitet, gelernt, gelernt.“ Um überhaupt bleiben zu dürfen, muss sie 7.000 Euro Kaution zusammenleihen, unvorstellbar viel Geld für sie. Mit Dankbarkeit erinnert sie sich an die Hilfsbereitschaft, die ihr schließlich von 2012 bis 2017 das Studium der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungsfachhochschule ermöglicht, arbeitet als Nachtdienstfrau in einer Zufluchstelle für minderjährige Mädchen bei IMMA.

Unterschiedlich und doch seelenverwandt: Daniel und Oksana

Und das Schicksal meint es weiter gut mit ihr: Oksana lernt Daniel Scholz kennen, die beiden heiraten, ziehen in eine kleine Wohnung, 2011 kommt Sohn Paul mitten im Studium auf die Welt. Als die Tochter Lina zwei Jahre später auf die Welt kommt, beginnt die Suche nach einer größeren, bezahlbaren Wohnung. Oksana stößt auf Informationen zum Prinz-Eugen-Park, sie ist fasziniert vom Genossenschaftskonzept. Tatsächlich aber ist es die misslungene Bewerbung des zuständigen Architekten für ein anderes Projekt mit dem München Modell, die sie mit der Progeno in Kontakt bringt. Damals besteht die Genossenschaft erst aus zwölf Mitgliedern, Oksana tritt bei, Daniels Vater unterstützt die junge Familie finanziell. „Ich wollte es unbedingt probieren,“ erinnert sie sich an ihre leidenschaftliche Experimentierfreudigkeit. Eine Eigenschaft, die inzwischen alle Nachbarinnen und Nachbarn bei Oksana kennengelernt haben. Sie ist eine Macherin, eine Innovatorin, manchmal ungeduldig, aber immer überzeugt von der guten Sache – und das ist ansteckend.

Oksana mit ihrem Mann, den Kindern Paul und Lina und ihrer aus der Ukraine geflüchteten Schwester und deren Kindern (Bild: Mariana Serdynska)

Ein Leben für Nachhaltigkeit und Ökologie

Für mich ist Oksana ein ökologisches Gewissen: Imkern aus Leidenschaft, ihr Einsatz für die Experimentierfläche im Garten, Nachhaltigkeit über die „Circular Society“, die nicht immer vergnügungssteuerpflichtige Pflege unseres „Verschenkregal“ im Müllhäusl, freiwillige Praktika wie zuletzt bei einem Winzer. „Ich brenne für Nachhaltigkeit. In der Ukraine hatten wir nicht viel, aber immer Gas und Öl! Billig! Wir haben uns nie Gedanken über Energieverschwendung gemacht… das ist hier ganz anders!“ sagt sie. Und für ein gutes nachbarschaftliches Klima sorgen Oksana regelmäßige Initiativen, eine Feuerschale zu Ferienbeginn anzuzünden: Inzwischen schon eine richtige, liebgeschätzte Tradition.

Im Verlauf unseres Gesprächs wird mir klar. Die Gefahr, dass es Oksana jemals langweilig wird, besteht sicher nicht! Kurzfristig schon allein deshalb nicht, weil sie sich um ihre Schwestern und andere Geflüchtete kümmert. Und auch langfristige berufliche Sicherheit besteht noch immer nicht: Ihr Job im Sozialreferat als „Beraterin der Servicestelle zur Erschließung ausländischer Qualifikationen“ ist nur befristet, wenn auch dort die Themen nicht ausgehen werden auf absehbare Zeit: Mit den vielen Fachkräften aus der Ukraine, Lehrerinnen, Ärztinnen, die aus diversen bürokratischen Gründen nicht arbeiten können. Was sie sich wünscht für all die Geflüchteten: „Ich möchte ihnen mitgeben, das Beste aus ihrer Zeit hier herauszuholen.“ Oksana hat das immer getan. Und ist längst angekommen in Deutschland – am Ziel aber sicher noch lange nicht!

Silvia Renauer

3 thoughts

  1. Hi Oksana,
    Es freut mich zu lesen, dass ihr euch offensichtlich gut in der Progeno eingelebt habt und euch dort wohl fühlt.
    Hut ab auch für dein Engagement!
    Wünsche dir weiterhin viel Kraft & Glück!
    Viele Grüße auch an Daniel.
    LG von eurem beinahe Mitbewohner,
    Thomas

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